Gedanken zur Zeit II

Tinder-Uni

«Wirtschaftsprofessorin Margrit Osterloh und Soziologin Katja Rost untersuchten im Auftrag der Universität Zürich, weshalb Frauen in akademischen Spitzenpositionen stark untervertreten sind. Während fast 60 Prozent der Studierenden weiblich sind, werden sie zu nur 24 Prozent von Professorinnen unterrichtet. Knapp 10’000 Personen nahmen an der Studie teil.

Das Ergebnis habe sie «schlichtweg umgehauen», sagt Osterloh gegenüber der «SonntagsZeitung». Der wichtigste Grund sei nämlich, dass Studentinnen keine oder nur geringe Karriereambitionen haben. Zudem sei ihr Familienbild nach wie vor eher konservativ geprägt. Sie bevorzugen einen Partner, der älter und erfolgreicher sei als sie. Wenn sie Mütter würden, wollen sie am liebsten Teilzeit arbeiten, während der Mann für das Haupteinkommen sorge.» (Zitiert nach Agenturberichten in verschiedenen Zeitungen.)

Das ist also die Befindlichkeit in der nominell aufgeklärtesten Kaste unserer modernen westlichen Werte-Gesellschaft. Die überwiegende weibliche Mehrheit im Jahre 2023 ist – zumindest im akademischen Umfeld, wo man sich noch Karrierewünsche leisten kann - auf der Stufe von Rosamunde Pilcher und Glückspost (aktuelles Glückspost-Zitat Christa Rigozzi: Mein Luxus ist Zeit mit der Familie) stehen geblieben. Es muss der absolute Albtraum sein für Neo-Feministinnen und Gender-Journalistinnen und allerlei Gleichstellungsbeamtinnen, nachlesen zu müssen, dass die seit nunmehr Jahrzehnten praktizierte Gehirnwäsche zu nichts geführt hat. Man stelle sich bloss vor, dieselbe Studie wäre mit 10‘000 Kassiererinnen, Coiffeusen, Personalassistentinnen, pardon: HR-Managerinnen) oder Bähnlerinnen durchgeführt worden. Das Resultat wäre, um es ganz elegant auszudrücken, nicht besser im Sinne der erwähnten Verfechterinnen der Frauensache, die sich ja neuerdings in die so genannte Woke-Bewegung einreihen und allein schon die Identität als Frau zur allgemeingültigen Doktrin für alle Frauen erklärt. Um selbstredend allen Nicht-Frauen die Mitsprache über Gleichstellung zu verbieten.

Machos und aufrechte Konservative, die sich an das traditionelle Frauenbild wie an die rettende Planke klammern und die sich voreilig über eine Tirade gegen die Frauenbewegung oder gar gegen die Gleichstellung von Frauen freuen, sollten jetzt nicht mehr weiterlesen – oder erst recht.

Die Studie, die bereits von militanten Neo-Feministinnen und den üblichen Verdächtigen, die immer zur Stelle sind, wenn es die von den Mainstream-Medien gehätschelten Narrative zu verteidigen gilt, als „unwissenschaftlich“ zerpflückt wird, deutet schlicht auf eine viel tiefer liegende Tatsache hin: Menschen lassen sich nicht umprogrammieren.

Bezeichnenderweise legt die zitierte Studie den Umstand schonungslos frei, wonach Frauen, die sich für so genannte Männerberufe (bezogen auf die akademischen Angebote) entscheiden und dort auch Karriere machen möchten, sich bezüglich der daraus sich abzuleitenden Konsequenzen für ihr künftiges Leben im Alltag durchaus bewusst seien. Karriere bedeutet demnach für sie in den meisten Fällen Verzicht auf die nur in amerikanischen Fernsehserien existierende kuschelige Häuslichkeit, in der sich zwischen Muttchen-Romantik für zwei Tage und Teppichetage für die restlichen drei Wochentage wählen liesse. Die meisten Männer haben diese Unterwerfung unter die wirtschaftlichen Zwänge - denn darum geht es – längst verinnerlicht. Viele sind daran zerbrochen, andere gescheitert und obendrein geschieden. Ob der Wille zur Karriere denn auch tatsächlich zum gewünschten Resultat einer selbstbestimmten, im besten Fall auch harmonischen Lebensweise führt, sei deshalb dahin gestellt – und zwar für Frauen wie für Männer. Die Studie scheint zu belegen, dass sich eine Mehrheit der studierenden Frauen nicht für die Karriere-Galeere entscheiden mag. Es ist zu vermuten, dass sie, bezogen auf ihren Lebensplan, klüger sind als ihre Kommilitonen. Wohl auch aus der Einsicht heraus, dass sich ein jahrzehntelanger Abnützungskampf für ein paar Prozent mehr Lohn und etwas Prestige am Ende doch nicht lohnt. Ist das so schlimm?

Dies festgestellt bedeutet nicht, die herrschenden sozio-ökonomischen Verhältnisse einfach hinzunehmen. Im Gegenteil. Der Kampf für eine gerechtere Teilhabe am ökonomischen Resultat hat gerade angefangen und wird sich angesichts der anonymisierten Besitzverhältnisse in der digitalisierten Wirtschaft zwangsläufig verstärken müssen – oder die Arbeiterklasse (weiblich oder männlich) verschwindet endgültig als historische Fussnote. Gleichstellung bedeutet nämlich nicht nur dieselben mehr oder weniger fairen Bedingungen für alle Teilnehmenden in den Arbeitsprozessen, sondern vor allem weniger Ungleichheit für alle. Zum Beispiel bei den Einkommen, die um den Faktor Vierhundert zwischen den unteren und den obersten Einkommen innerhalb desselben Betriebes variieren können. Von der Vermögenslage ganz zu schweigen.

Bezüglich der eingangs erwähnten Studie bedeutet dies, dass die Lohnabhängigen, gleich welcher Kategorie sie angehören, die Erkenntnis der Abhängigkeit vom Kapital als solidarische Erfahrung einstufen und daher die Kassiererin, die Professorin, den Mechaniker und der Personalmanager als Teile einer gleichen Klasse erfahren und in ihren Kampf gegen die herrschende Macht des Kapitals einbeziehen. Denn am Ende des Tages (man bittet für die dämliche Metapher um Verzeihung) ist die arbeitslose Professorin genauso arbeits- und machtlos wie der wegrationalisierte Mechaniker. Und früher oder später ebenso mittellos. Die Situation heute sieht leider anders aus. Der Kampf um gleiche Rechte, Gleichstellung in einer gemeinsam erlebten Gesellschaft ist längst schon der Atomisierung in einzelne Grüppchen – vornehm als Identitäten bezeichnet – und sogar in die Auflösung in der Individualität gewichen. Solidarität, kollektives Empfinden und Handeln? – abgehakt. Wo keine organisierten Machtkonkurrenten zu erkennen sind, haben es die Machthaber immer am leichtesten, ihre Bedingungen den einzelnen aufzuzwingen.

Die Studie könnte aber auch noch ganz anders gelesen werden. Nämlich in der Weise, dass sich viele Frauen – und je höher die Bildung desto deutlicher – sich der unbefriedigenden Situation am Arbeitsmarkt durchaus bewusst sind und sich deshalb im Interesse der eigenen Gesundheit und jener ihrer Kinder gegen Stress, Konkurrenzkampf und darüberhinaus geschlechtsbedingte Benachteiligung entscheiden. Ein Haupteinkommen, das ein würdiges Leben für die Familie sichert, ist dabei freilich die Voraussetzung, was bei Akademikern – vorläufig – noch eher der Fall sein dürfte, wie der unlängst veröffentlichte Bildungsbericht 2023 beweist. Den Frauen, die sich für diesen Weg entscheiden, ist kein Vorwurf zu machen, es gibt auch keinen Grund, mitleidig oder neidisch auf sie herunterzuschauen. Es ist eine Wahl, die angesichts der sich seit Jahrzehnten verschlechternden Aussichten und der sich mehr und mehr ausbreitenden Unmenschlichkeit der Arbeitswelt (permanente Verfügbarkeit, pseudo-flache Hierarchien bei minutiöser Überwachung, unablässiger Leistungsdruck trotz zunehmender Bullshit-Jobs usw.), als Ausweg anbietet. Für Akademiker und Erben zumindest. So gesehen ist es völlig normal, dass sich die Universitäten, die von einer weiblichen Mehrheit bevölkert werden und wo jedes zweite Studium vor dem Abschluss beendet wird, als reale Tinder-Plattformen entwickelt haben.

Wäre daraus zu lernen? Wohl schon.

Zum Beispiel, dass die Welt der Arbeit in einen Lebensraum für verantwortungsbewusste Menschen zurück verwandelt wird. Wo Menschen beiderlei Geschlechts aufgrund ihrer Fähigkeiten eine sinnvolle Arbeit finden und sich nach Massgabe ihrer Möglichkeiten entfalten können. Zum Beispiel, dass die Entlöhnung einer Arbeitskraft (oder die Sozialleistungen) der Familie ein würdiges Leben erlaubt (wie übrigens auch den AHV-Rentern, die davon meilenweit entfernt sind und sich Jahr für Jahr dank einer nach rechts abdriftenden Mehrheit im Parlament davon weiter weg bewegen), und somit die Wahl für oder gegen die Familie nicht vom Lohn abhängt. So dass sich Frauen und Männer – ob mit oder ohne Behinderung übrigens - angstfrei dafür entscheiden können, während einer gewissen Zeit beziehungsweise in Intervallen – bis zur Grundschule, bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit, bis zum Abschluss einer Lehre oder eines Studiums usw. - nur für die Arbeit für Familie und Kinder da zu sein, um früher oder später mit dem Partner die bezahlte Arbeit in einem Betrieb tauschen zu können. Das milliardenschwere Kita-Getue könnte so auf jenes Minimum von Familien gestrichen werden, die aus welchen Gründen auch immer, darauf angewiesen wären.

Die zitierte Studie könnte in der Tat eine hervorragende Gelegenheit sein, über das System Arbeit, deren Verteilung, deren Entlöhnung und die dahinter stehenden Finanz- und Machtinteressen nachzudenken und das notwendige Handeln einzuleiten. Mithin über den Sinn einer modernen Gesellschaft. Bei der notorischen Borniertheit der von neo-feministischer Verblendung angeführten Journaille wird es nicht dazu kommen. Es wird bei der dämlichen Auseinandersetzung darüber bleiben, ob Frauen, die eine Universität besuchen, arbeiten wollen oder nicht. Von der Kassiererin, der Coiffeuse, der Personalfrau, der Bähnlerin: von ihnen spricht man nicht. Und vom ganzen Rest schon gar nicht.

Olten, Mai 2023/SF

Vom Angsthaben und vom Angstmachen

«… lerne die Furcht zu besiegen. Das ist die einzige Kunst, die wir in der heutigen Zeit beherrschen müssen. Furchtlos die Dinge betrachten, furchtlos das Richtige tun.» Friedrich Dürrenmatt, Romulus der Grosse, 3. Akt

Ein totgesagtes politisches Geschäftsmodell ist zur Allzweckwaffe für die Führungsriegen in den - statistisch gesprochen - übersatten Ländern und Regionen der westlichen Welt geworden: Angst.

Man erinnert sich an die Zeiten des Kalten Krieges, als die einen wiederaufbauten, um die anderen in den Neubauten einziehen zu lassen. Am Ende, in den Siebzigern, hatten sich alle eine goldene Nase daran verdient. Jedenfalls ein paar. Deutschland und Europa erwachten nach dem dreizehn Jahre lang währenden tausendjährigen Reich im Wirtschaftswunder. Wer sich damals, aus welcher Gemüts- oder Motivlage heraus auch immer, erlaubte, darauf hinzuweisen, dass das alles vielleicht in die falsche Richtung gehen könnte (zum Beispiel in eine nachhaltige Umweltkatastrophe oder – schlimmer – in eine gefährliche soziale Ungleichheit), wurde mit der Allzweckwaffe jener Zeit zum Schweigen gebracht: Wenn es dir nicht passt, geh´ doch nach Moskau – am besten mit einem Einfach-Billett. Die Angst war allgegenwärtig. Die Angst vor dem Russen. 

Ende der Achtziger Jahre war Russland bzw. die Sowjetunion, das Reich des Bösen, der Antichrist, die Bedrohung der Menschheit, endgültig besiegt und über den Tisch gezogen. Der Kapitalismus mutierte unter dem neoliberalen Deckmantel zum globalen Ultrakapitalismus. Ein zweitklassiger Schauspieler und eine erstklassige Lügnerin übernahmen die Führung der Welt, die Chicago-Boys lieferten die geistig-moralische, in wirtschaftstheoretischem Schaum verpackte Munition für einen endgültigen Vernichtungsschlag. Die Waffen: Egoismus, Raffgier und monopolistische Marktbeherrschung. Nach der vermeintlichen Befreiung von der Angst schien es, als habe die Menschheit ihren Frieden und ihre Seligkeit in einem immerwährenden Konsum gefunden. Auf Kredit sowohl im Kleinen als auch im Grossen. Die Angst vor dem Krieg des Russen gegen den Rest der Menschheit, wich der Angst vor Konsumverlust. Das Haben war zur neuen Religion geworden, das Sein der neue Antichrist. 

Das totale Vergnügen – eines Fünftels der Menschheit – mutierte zur Referenzgrösse der politischen Eliten. Die Beglückung der restlichen vier Fünftel der Menschheit mit Brot und Spielen (neue Märkte) ist seither das Mantra der Ordensritter, die sich am WEF zum jährlichen Hochamt treffen: die Zocker an den Börsen, die Hehler in den Banken, die Raubritter der Privatisierungen, die Treuhänder des Niederganges ehemaliger Oststaaten.

Die Metaphysik des christlichen Glaubens an ein fernes Paradies und die damit verbundene Unsterblichkeit wurde – wie übrigens auch jene aller übrigen Religionen – erfolgreich durch die Metaphysik des Glaubens an das ewigen Wachstum abgelöst.

Und jetzt sind wir wieder dort. Die Wenn-es-dir-nicht-passt-geh-doch-nach-Moskau oder die Jedes-Land-muss-sich-selbst-schützen-können oder die Sie-hat-sich-nicht-distanziert oder Er-ist-ein-Freund-von und erst recht jene Jetzt müssen wir doch aufrüsten, wann denn sonst sind zurück.

Seltsam, wie ein herbeigeredeter und von einigen gar herbeigewünschter Krieg nebst den unvermeidlichen humanen und materiellen Opfern vor allem in den Köpfen der Lenker und Denker unserer Welt kollaterale Verheerungen anrichten kann. Oder war das am Anfang schon alles nur vorübergehend zwischengelagert und der Krieg ist nun bloss das Zeichen für den Freigang von Gedanken und Handlungen, die man 30 Jahre lang zwecks eventueller Wiederverwendung eingemottet hatteEin Krieg: für die einen die in Endlosschlaufe wiederholte Clausewitz-Sottise die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, für andere der willkommene Vorwand für die Restauration lange geschickt verborgener Denkschemata, von Dogmen gar? Vieles deutet darauf hin, zu vieles. 

Kaum jemand wird sich angesichts der Bilderflut aus dem Kriegsgebiet, der herzzerreissenden Reportagen über Flüchtlinge, den von den Propagandaabteilungen beiderseits der Front verbreiteten Todes- und Verletztenzahlen oder im Taumel der ebenso endlosen wie sinnfreien Diskussionsveranstaltungen in Fernseh- und Radioanstalten, Gedanken machen über das Was-kommt-nachher? Denn es steht schon fest: Wir sind die Guten, alle anderen die Bösen. Selbstredend wird das auf der anderen Seite des Spiegels genau so gesehen. Und die Geschichte wird sowieso vom Sieger geschrieben.

Für die Schweiz und eine seit Jahr und Tag in allen Leitmedien durch einen auffälligen Kriegsrausch (Berset) auf Nato-Kurs gebrachte Elite sind ihre Bank (Einzahl ist angebracht), die Berge und alles dazwischen unmittelbar bedroht. Folgerichtig muss jetzt aufgerüstet werden. Flugzeuge brauchen wir, jetzt. Unreflektiert – oder berechnend? – werden die surrealen Ängste der Siebziger reaktiviert und als Axiom in unseren Köpfen verankert: der Westen ist gut, das Schlechte kommt aus dem Osten und die Schweiz ist sowieso neutral (unter dem Schutz der Nato, versteht sich; was man freilich so nicht zu sagen getraut). Und wir, unsere Werte, unsere Demokratie, alles ist bedroht. Die Zukunft sieht nach Vergangenheit aus

Und jetzt ist auch noch das Allerheiligste unter Druck geraten: unser erspartes Geld. Nachdem die kriminelle Vereinigung an der Zürcher Bahnhofstrasse eine der beiden Grossbanken an die Wand gefahren hattesei angeblich Gefahr in Verzug gewesen. Man habe handeln müssen, heisst es, um das Schlimmste zu verhindern – den Konkurs einer Firma, die von geldgierigen Managern über Jahre hinweg in den Abgrund geführt wurde und die sich im Verbund mit devoten Politikern erfolgreich dagegen gewehrt hatten, mehr Sicherheiten gegen das Finanzcasino einzubauen. Oder das Casino gar bleiben zu lassen. Der Beizer von nebenan, der sich abgerackert hat ein halbes Leben lang, und dem behördlicherseits unter dem Vorwand, die Volksgesundheit zu schützen, über ein Jahr lang die Existenz weggesperrt wurde, der hingegen ist nicht systemrelevant, auch wenn es tausende von Beizern nebenan gibt, oder Musiker oder Maler oder Kleingewerbler aller Art. Sie wurden vom Betreibungsamt sauber abgewickelt. Dagegen werden mit der Garantie des Steuerzahlers über 200 Milliarden Franken riskiert, um eine kriminelle Vereinigung über die Runden zu bringen. Und gleichzeitig ist angeblich kein Geld vorhanden, um die Rentnerinnen und Rentner mit ein paar Franken mehr pro Monat wenigstens die Teuerung zu überleben.

In Frankreich hat der neoliberale Staatschef ein Projekt durchgeboxt, das ab 2024 die Arbeitnehmer zwingt, zwei Jahre länger, bis 64 zu arbeiten. Und wer bis 70 schuftet, kriegt garantiert die volle Rente von mindestens zwölfhundert Euros. Das Parlament wurde gar nicht befragt, vom Stimmvolk ganz zu schweigen. Durch einen verfassungsmässig vorgesehenen Zwangsartikel werden die Arbeitnehmer Frankreichs ungefragt zu zwei Jahren mehr Arbeit gezwungen. Die Job-Aussichten für über 50Jährige sind dort im übrigen genauso beschissen – pardon - wie überall in Europa. Ein zynisches Doppelspiel der Machthaber: Lieber die Reichen, deren Erben und die Börsenspekulanten bei Laune halten als die Machtlosen in Würde altern zu lassen. Frankreich gleicht sich der Schweiz an: das Pensionsalter nähert sich der durchschnittlichen Lebenserwartung; nur, dass sich in der Schweiz dafür eine Mehrheit der Abstimmenden gefunden hat. Denn hier gehört zur politische individuellen DNA, was andernorts noch erlernt werden muss: Nur die dümmsten Kälber wählen ihren Metzger selber.

In Italien regiert eine neofaschistische Clique per Notstandsgesetz, um mit den aus dem Mittelmeer gefischten Flüchtlingen – gegen Dreissigtausend in den ersten drei Monaten 2023 – fertig zu werden. Sie dürften zum überwiegenden Teil in den nächsten Monaten zu Sklaven in der Landwirtschaft mutieren, um Auberginen und Tomatenennet der Alpen zu konkurrenzlosen Preisen abzusetzen. Aber auch sonst ist die Nachfolgerin Mussolinis unzimperlich, wenn es um den Wiederaufbau eines faschistischen Staates geht. Und wie schon in Ungarn unter Diktator Orban stehen dabei die noch verbliebenden wenigen freien Medientitel unter Beschuss. Kritische Beobachter sind den Nachfahren der Schwarzhemden ein Dorn um Auge; dazu passt, dass Berlusconi schon den Grossteil der Arbeit gemacht hat und die italienische Öffentlichkeit über Jahre hinweg durch sein Medienimperium bis zur Bewusstlosigkeit amüsiert und verblödet hat. Reflexion und autonomes Denken sind Gefahren für den Faschismus.

Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Gegenwart. Seit ein paar Jahren werden wir durch Angst beherrscht oder vielmehr durch gezielt geschürte Ängste: vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, vor dem Verlust des Gesparten, vor dem Verlust der Freiheit (welche Freiheit?), vor dem Verlust der Gesundheit, vor dem Verlust des Wohlstands, vor dem Verlust der Zukunft. «Angst essen Seele auf», der Titel des von Rainer Werner Fassbinder so genial inszenierten Films schildert in wenigen Worten den Zustand einer Gesellschaft, die sich in jeder Art Hedonismus verloren hat, bei gleichzeitiger Tiefkühlung jedwelcher Empathie. Wer sich die Ausschweifungen der medial tagtäglich inszenierten Konsumgesellschaft eigentlich nicht leisten kann, kauft sich die künstliche Wärme auf Kredit. Der Rest fällt durch die Maschen des sozialen Netzes; Maschen, die Jahr für Jahr grösser werden. Angst essen Seele auf.

Es bedarf keiner Verschwörungstheorie, um festzustellen, dass die angesprochenen, um sich greifenden Ängste mit einem inflationären Gebrauch notrechtlicher «Massnahmen» verbunden ist. Wo die politischen Gewichte nicht ohnehin schon auf die Seite rechtsextremer und sogar neofaschistischer Regimes verschoben wurden (die Folge jahrzehntelanger Einschüchterung, die nach starken Männern oder Frauen mit einfachen Lösungen ruft), wird immer leichtfertiger die Notrechtskeule ergriffen. Spätestens seit der vorletzten globalen Finanzkrise 2008, als es galt, über Nacht angeblich systemrelevante Banken vor dem Konkurs zu retten, sind notrechtliche Eingriffe in Grundfreiheiten zum Standard geworden. Die Parlamente bleiben aussen vor, die Regierenden machen die «Massnahmen» mit den interessierten Kreisen unter sich aus. 

Die haarsträubenden «Massnahmen» gegen das Grippevirus sind nunmehr zur Blaupause für nahezu alles und jedes geworden, was gegen unsichere Mehrheiten durchgeboxt werden soll. Meistens zugunsten einer kleinen Interessengruppe. So haben die Lockdowns nicht die primär gefährdeten, älteren Menschen geschützt – denn diese wären auch durch gezielte Schutzprogramme vor Ansteckung besser zu schützen gewesen – sondern das durch eine neoliberale Privatisierungsorgie seit Jahren niedergemachte, sprich privatisierte Gesundheitswesen. Ein paar schwer kranke Menschen genügen, um eine «ausserordentliche Lage» auszurufen, weil man sich Reservekapazitäten nicht leisten will.Rendite geht vor, auch wenn diese Rendite sowieso durch den Steuerzahler abgesichert ist. Und eine von der in den amtlichen Gleichschritt befohlenen Medienmeute verängstigte Bevölkerung lässt umgehend alles mit sich machen, was noch Monate zuvor undenkbar gewesen wäre. Auf der Jagd nach Klicks pushen die Leitmedien – in feiner Abstimmung mit den Schaltzentralen der Macht und dosiert mit Vorweginformationen versorgt, damit alle wohlgefälligen Zeitungen, Plattformen und Sendungen ihren Scoop haben – jeden erdenklichen Einzelfall, um das Angstlevel so hoch zu halten, dass Widerstand als Verrat, als Angriff auf die Volksgesundheit oder gar als pathologische Auswüchse diffamiert werden dürfen. Politiker verstecken sich hinter sorgsam zusammengestellten angeblichen Fachgremien – in denen zwar ebenso so kompetente, aber kritische Stimmen nichts zu suchen haben. Und hinter all dem machen ein paar hoch subventionierte Player der Pharmabranche und Maskenverkäufer ein Milliardengeschäft.

Noch während sich Menschen und Unternehmen die Augen reiben über den zwei Jahre lang ausgehaltenen Humbug, erstaunt es kaum, dass ein ebenso unnötiger wie brutaler Krieg jenseits des Südostrandes der Europäischen Union, das Notstandszenario gleichsam verlängern lässt. Jetzt geht es nicht mehr, wenigstens nicht unmittelbar, um unsere Gesundheit; es geht jetzt um «unsere Werte», wenig später geht es angeblich gleich auch noch um «unsere Freiheit». Und wieder sind es die Leitmedien, die uns Gehorsam einbläuen, damit die Machthaber alle Grundsätze der Diplomatie, die allein die Katastrophe für unzählige Menschen diesseits und jenseits der Fronten eingrenzen und verkürzen könnten, über Bord werfen dürfen. Das Gegenteil ist der Fall. Ein Krieg, der von keiner Partei gewonnen werden kann, wird mit Waffenlieferungen aller Art auf unbekannte Zeit hinaus verlängert. Ebenso das Leid, das Sterben, die Vernichtung. Und wieder ist es eine Industriebranche, die sich die Hände reibt: der militärisch-industrielle Komplex in den USA und in Europa. Ein in Kiew in die Rolle des Staatspräsidenten geschlüpfter Fernsehkomiker darf ungehindert, ja sogar auf Einladung via Fernsehübertragung direkt in Parlamenten reden und Einfluss auf die Entscheidung gewählter Volksvertretungen nehmen. Es sind unverblümte Erpressungsversuche: Wenn wir untergehen, geht ihr mit uns unter. Mehr Waffen, aber subito! Mit seinem Gegner in Russland spricht keiner. Und wer es versucht, wird sogleich als Defätist zurückgepfiffen, wenn nicht gar als Verräter an unserer Freiheit und – immer wieder – unseren Werten. Die deutsche Aussenministerin, die gerade zusammen mit der als «Flinten-Uschi» bekannt gewordenen deutschen Chefin der EU-Kommission die neue feministische Aussenpolitik durch Waffenlieferungen in Hochform bringt, lehnt es ab, mit ihremAmtskollegen aus Russland zu reden. Der Krieg muss weiter gehen. Die Verteidigung «unserer Werte» und «unserer Freiheit» muss in den Auftragsbüchern von Rheinmetall, Thyssenkrupp, Thales oder Northrop die gewünschten Spuren hinterlassen. Durch den medialen Kriegsrausch gefügig gemachte westeuropäische Eliten (und jene der Schweiz) glauben tatsächlich, dass Russland, das nach neun Jahren Bürgerkrieg gegen russisch stämmige Ukrainer im Donbass zum verheerenden falschen Mittel des Krieges gegriffen hat, ein für allemal niedergemacht werden könne. Es scheint, als ob Clausewitz auch in Russland Schüler hat. Man hat in Brüssel, Berlin, Paris und in Bern sowieso vermutlich noch nie etwas von der Leidensfähigkeit des russischen Volkes gehört, einer Leidensfähigkeit, die es vor 80 Jahren möglich gemacht hat, dass Hitlerdeutschland militärisch zerstört werden konnte. Das breite Volk wird schon gar nicht befragt, ob es diese Kriegseuphorie mitträgt. Schliesslich ist man ja für etwas gewählt. Und sei es nur, um den Untergang von uns allen zu organisieren.

Und nun also eine neue Finanzkrise. Die bereits erwähnte Geschichte ist bekannt. Abermillliarden werden als Staatsgarantie bereitgestellt. Und gleichzeitig wird alles unternommen, um nur schon im Ansatz zu verhindern, dass sich das Ganze in wenigen Jahren wieder nach demselben Schema wiederholt. Gouverner c'est prévoir, notierte Emile de Girardin 1852. Man hat es hundertfünfzig Jahre später immer noch nicht begriffen.

Was die Machthaber sehr wohl begriffen haben, ist das Geschäft mit der Angst. Es scheint einfach geworden zu sein, im Verein mit den für ein paar Klicks mehr zu allem bereiten L