Gedanken zur Zeit I

Nach dem Sieg der 13. AHV: Jetzt aber subito!

Zuerst ein Eingeständnis: Ja, der Schreibende gesteht, dass er seit Wochen mit der Angst gelebt hat, ein weiteres, ungezähltes, Mal nach über 50 Jahren politischen Denkens (und Kampfes) denselben Albtraum nochmals zu erleben. Nämlich, dass eine Abstimmung für eine minimal bessere soziale Absicherung oder ein würdigeres Leben ganz allgemein von einer unwiderstehlichen Propagandawalze plattgemacht würde. Es ist anders gekommen, ganz anders! Den Gewerkschaften in diesem Land gilt der uneingeschränkte Dank.


Der historische Sieg der Vernunft über die übliche helvetische Tyrannei der Verdummten, die sich bisher fast immer von Scheinargumenten in Angst und Schrecken versetzen liessen, ist jedoch noch nicht in trockenen Tüchern, will heissen, noch nicht auf dem Konto von Frauen und Männern, die meist ein Leben lang geschuftet haben, eingetroffen. Noch am Abstimmungsabend war die angeblich einst der revolutionär-marxistischen Liga angehörende Innenministerin nicht dazu bereit, eine klare Aussage dazu abzugeben. Sie druckste herum und verkündete kleinlaut, man werde „versuchen“, die Einführung der 13. AHV auf den 1. Januar 2026 Realität werden zu lassen.

„Versuchen“ heisst in Bern stets, man werde jeden Trick anwenden, um die Sache hinauszuzögern. Jedenfalls dann, wenn es sich um soziale Anliegen handelt, die keine Verschlechterungen bringen. Bei der neoliberalen Finanzministerin, die sich oft und gerne in die Finanzierung von Sozialwerken ungefragt einmischt (jüngst mit der Drohung, wegen der 13. AHV die Steuern zu erhöhen und vordem bei der Witwenrente) dürfte dagegen kaum Widerstand zu erwarten sein. Und über den Rest der Konkordanten wollen wir schweigen.


Dabei hat der Abstimmungssonntag eine Dimension des Widerstands gegen diese heuchlerische und zur Lüge neigende Elite in Parlament und Regierung offenbart, wie man es sich in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte. Denn, es ist nicht einfach der überwältigende Sieg eines genialen Initiativ-Textes zu feiern, sondern eine noch viel eklatantere Niederlage eines Projektes aus der neoliberalen Burschenschaft. Deren – freisinnige – Initiative für eine Anpassung des Rentenalters an die durchschnittliche Lebenserwartung wollte die schon seit Jahren im Vergleich zu jedem anderen Land überdurchschnittlich lang arbeitende Bevölkerung sozusagen bis zum Ableben krampfen lassen. Dieser dreiste Versuch, den Sozialdarwinismus gleich auch noch in die Verfassung zu schreiben, ist nicht nur krachend gescheitert, sondern macht die Bedeutung des Sieges der 13. AHV noch um einiges grösser.


Der neoliberale Saustall Schweiz kann ausgemistet werden. Es gibt in Bevölkerung und Kantonen deutliche Mehrheiten, die mit ihrem Ja dafür die Mistgabel bereit gestellt haben. Deshalb ist mit der Umsetzung der Initiative umgehend zu beginnen und die 13. AHV spätestens auf den nächsten 1. Januar 2025 einzuführen. Der Initiativ-Text steckt dazu den Rahmen ab:


„Der Anspruch auf den jährlichen Zuschlag entsteht spätestens mit Beginn des zweiten Kalenderjahres, das der Annahme dieser Bestimmung durch Volk und Stände folgt.“


Darf man der einst revolutionär-marxistischen Genossin Baum Schneider nachhelfen? Der 1. Januar 2026 ist nicht das Zieldatum für die Umsetzung der Initiative, sondern der letztmögliche Termin, und schon gar nicht noch später! Alles, was vorher möglich ist, ist im Sinne der Initiative und der grossen Mehrheit der Stimmbevölkerung. Wäre die Initiative übrigens nur 2 Monate und 4 Tage vorher zur Abstimmung gekommen, oder am Dezember-Abstimmungs-Termin 24, so läge der spätestmögliche Einführungstermin am 1. Januar 2025. Sind noch Fragen? Schon.


Wie wäre es beispielsweise, wenn die Regierung, welche es durch Aushebelung der Grundrechte fertig brachte, einer ganzen Bevölkerung Masken ins Gesicht zu drücken, sie über Monate einzusperren, Teile der Wirtschaft dauerhaft abzuwürgen, das soziale und kulturelle Leben zum Stillstand zu bringen – wie wäre es also, wenn zum Vorteil eben dieser Bevölkerung angesichts der offenkundigen Dringlichkeit und dem plebiszitären Plazet ein bisschen „ausserordentliche Lage“ ausgerufen würde? Nur so ein bisschen, will heissen, das Parlament für die Bevölkerung und nicht nur für die Privilegierten zum Arbeiten zu bringen.


Wie wäre es, wenn dieselbe Regierung, die für die Rettung einer kriminellen Vereinigung Dutzende Milliarden von Franken auf den Tisch zu legen bereit war, jetzt subito ein paar wenige Milliarden in das Viertel dieser Bevölkerung investierte, das zwischen 100 und 300 Franken pro Monat nicht nur dringend nötig hat, sondern diese vermutlich umgehend in den Kauf von Dingen und Dienstleistungen umtauscht, für die sie aus Armut und Scham keine Gelegenheit hatte?


Wie wäre es, wenn man Violas Generälen endlich die rote Karte zeigte und ihnen die Wunschliste auf das Mass einer landesweiten Katastrophenvorsorge reduzierte, was sich subito auf das laufende Budget und jenes der nächsten Jahre auswirkte? Es gab ja einen „Journalisten“, der in den Wanner-Medien ernsthaft forderte, dass die Milliarden für die 13. AHV gefälligst in die Armee zu stecken seien. Eben. Der 3. März hat die Prioritäten wohl doch etwas verschoben, oder?


Wie wäre es also, wenn bis im Sommer dieses Jahres ein Konzept zur Anhebung der Sozialabzüge auf den Löhnen von 0,4 Prozent vorgelegt und vom Parlament im Herbst mit Wirkung per 1. Januar 2025 durchgewunken würde? Nur ein paar als Fragen getarnte Vorschläge für eine umgehende Umsetzung eines von einer erdrückenden Mehrheit in diesem Land geforderten sozialen Besserstellung.


Natürlich ist es langfristig nicht damit getan, denn die Sozialwerke sollen auch den kommenden Generationen Sicherheit bieten. Indem zum Beispiel die zum Himmel schreienden Ungleichheiten, sprich Ungerechtigkeiten bei den Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuern endlich beseitigt werden. Oder durch eine Besteuerung der meist durch Luftgeld der Banken finanzierten Börsenspekulationen, auch wenn dabei – für einmal – die Schweiz vorausgehen müsste. Oder durch eine dauerhafte Reduktion oder gar Abschaffung jener Subventionen, die z.B. eine umweltfreundliche Landwirtschaft verhindern oder den Flugverkehr fördern oder ein Gesundheitswesen finanzieren, das uns alle krank macht.

Medien: Von der Aufklärung zur Propaganda und zurück


Es steht ausser Frage, dass die Medien (ca. 95 Prozent der Titel) bei der Hetz- und Hasskampagne gegen die 13. AHV eine mehr als nur fragwürdige Rolle gespielt haben. Das bereits während der behördlich angeordneten (und wie sich bald herausstellte, völlig überflüssigen) Maskeraden und Lockdowns durchgespielte Grundmuster wurde nunmehr verfeinert. Zwar wurde nicht mehr - im Austausch gegen Vorabinformationen - eine Befehlsausgabe an die Redaktionen praktiziert, man gehorchte einfach schamlos den Befehlen aus der Annoncenabteilung. Wenn so viele Millionen hereinkommen, muss auch Adäquates geliefert werden. Ob die Lohnschreiber bei Wanner, TA und NZZ nun, nach dem (aus ihrer Sicht) Desaster keinen Bonus bekommen, ist nicht bekannt. Offensichtlich ist aber die Entbehrlichkeit der meisten Medien für eine offene, faire und informierende Berichterstattung geworden. Die Wiederholungstäter vor den Redaktions-Bildschirmen dürften in breitesten Kreisen jede Glaubwürdigkeit verloren haben. Es braucht sie weder auf Papier noch digital, sie sind überflüssig geworden. Wer jetzt sein Abonnement kündigt und auch keinen Eintrittspreis mehr bezahlt für manipulierte News auf allen Kanälen tut nicht nur etwas Nachhaltiges für die Wiedergeburt eines anständigen Journalismus, sondern spart sich einen Batzen zusätzlich zur 13. AHV oder man kann sich dafür eines der wenigen wirklich unabhängigen Medien leisten, wie etwa Infosperber. Denn der Mainstream-Journalismus unserer Tage ist von Propaganda nicht mehr zu unterscheiden. Der Weg zurück zur Aufklärung, als nobelster Aufgabe der Medien, ist mit Kündigungen gepflastert.

Ohne neue Parlamentsmehrheiten keine Zukunft


Zum langen Weg in eine zur Hoffnung berechtigende Zukunft für uns alle braucht es auch entsprechende parlamentarische Mehrheiten (es sei denn, man wolle sich von der demokratischen Ausmarchung verabschieden). Diese sind heutzutage nicht vorhanden. Der neoliberale Haufen, der sich in den letzten drei Jahrzehnten des totalen Konsums als tollwütiger Mob aufgeführt hat und sich früher oder später angesichts der verhinderten Zeitenwende in totalitäre Machtklüngel verwandeln würde, muss gestoppt werden. Dafür ist der 3. März 2024 ein wichtiges Indiz. Der Freisinn, beispielsweise, hat sich definitiv als ernstzunehmende Kraft aus dem Spiel genommen, genau so wie deren grün angestrichene fünfte Kolonne, die grün-labile Partei GLP. Und die sich in der Mimikry einer richtungslosen Mitte tarnende CVP muss sich wohl irgendwann entscheiden, ob man auf der Seite der Zukunft steht oder sich als opportunistischer Wendehals immer wieder gerne der Herrliberger Bewegung als Mehrheitsbeschafferin andient. Und die Grünen und Linken? Alles paletti? Kaum. Solange man sich programmatisch nicht darüber im Klaren ist, dass nur eine in dauerhafter sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Sicherheit lebende Bevölkerung die notwendigen radikalen Veränderungen mitzutragen bereit ist, hat man noch viel Arbeit vor sich. Dafür sind Gendern, Woken und allerlei randständige Nabelschauen nicht die mehrheitsbeschaffenden Themenfelder.


Der Sieg vom 3. März löscht alleine noch keines der lodernden Feuer, die sowohl am Horizont wie auch ganz in der Nähe aufleuchten. Aber er ist ein Zeichen der Hoffnung. Freuen wir uns für einen Moment, bevor es wieder an die Arbeit geht.



Olten, 4./6. März 2024/SF

Heucheln und lügen gegen die 13. AHV

Dass bei Abstimmungsvorlagen, denen über Wochen und Monate eine glanzvolle Annahme vorausgesagt wurde, die Nerven bei den sich wohlweislich bis zum letzten Moment bedeckt haltenden Gegnern blank liegen, ist nachvollziehbar. Insbesondere, wenn es eine Initiative der Gewerkschaften ins Ziel schaffen könnte. Ein Ja zur 13. AHV entspricht ebenso der Logik einer seit Jahren sich verschlechternden Perspektive für Leute ab 40, wie es eigentlich dem gesunden Menschenverstand der Jüngeren entsprechen müsste, die gleichzeitig zur Abstimmung vorgelegte, von den neoliberalen Jungtürken initiierte Reform mit neuerlich steigendem AHV-Alter bachab zu schicken.


Da man es sich mit den rund 20 Prozent Alters-Rentnerinnen und -Rentnern aber nicht verscherzen möchte – irgendwann stehen ja wieder Wahlen an, nicht wahr? – sind die seit Jahren mit der Abrissbirne auf die Sozialwerke losgehenden Damen und Herrn „Politiker“ gezwungen, nun scheinbar zu ganz neuen Methoden zu greifen.


Milliardär Blocher geht wie immer voran, gegen ein Ansinnen, das sein Volch tatsächlich zwar nicht verwöhnen, aber wenigstens für einen kurzen Moment nicht noch schlechter stellen würde. Der Herr aus Herrliberg verkündet ohne jede Scham, er wäre natürlich für eine 13. AHV, sogar für eine 14. aber dafür fehle das Geld, leider. Und der designierte neue Präsident der Herrliberger Bewegung bringt sogar eine 15. AHV ins Spiel, die er doch so gerne unterstützen würde, aber eben, leider fehle das Geld dafür.


Und auch bei den so genannten Freisinnigen, ihrem grün angestrichen Seitenwagen GLP und den sich in die Mitte drängenden Christdemokraten sind jetzt die Masken gefallen. Wie seit Jahren wird über die angeblich fehlenden Finanzen lamentiert, um zu verhindern, dass Frauen und Männer, die ein Leben lang gekrampft haben, nun mit einer AHV (über)leben dürfen, die immer noch nicht einmal ein Auskommen sichern würde, das den Grundbedarf decken würde. Die Koalition der Neoliberalen geht damit über den seit Jahrzehnten bewusst vorangetriebenen skandalösen Verfassungsbruch hinweg, denn laut unserer Verfassung muss die AHV ein Einkommen sichern, das ein würdiges Leben im Alter sichert. Der bürgerlichen Mehrheit in diesem Land genügt es vollständig, wenn ein Drittel der Bevölkerung (denn nebst den Altersrentnern werden auch die IV-Bezüger und erst recht die Bezüger von Ergänzungsleistungen und Sozialhilfe mit dem Hungertuch abgespeist) zu wenig zum Leben und zuviel zum Sterben hat.


Der Gipfel der Unverschämtheit wird mit der Behauptung erklommen, wonach die jetzt zur Abstimmung kommende Initiative für eine 13. AHV den Millionären zugute käme, die eigentlich gar keine AHV nötig hätten. Der Grundsatz einer Solidarversicherung, die eben gerade allen zugute kommen muss, wird dabei ganz einfach weggelogen. Dazu weiter unten mehr.


Aber geht es eigentlich beim Propagandakrieg gegen die 13. AHV wirklich um die AHV an sich und deren Finanzierung? Natürlich nicht, denn es geht um die Sicherung der Privilegien der FDP-, CVP- und GLP-Klientel – und natürlich um die Unantastbarkeit der hohen und höchsten Einkommen und Vermögen in diesem Land, welche dank der Tyrannei der Verdummten seit Jahren, auch vom so genannten SVP-Volch, in Abstimmungen und Wahlen, jeweils nach gebührender Gehirnwäsche durch hörige Medien, immer wieder gestärkt werden. Die Mehrheit in diesem Land verzichtet nach eben solchen Medien-Manipulationen auf mehr Ferien, erhöht das Rentenalter, nimmt ein Krankenversicherungssystem hin, das zur finanziellen Anämie der Hälfte der Bevölkerung führt und lehnt gleichzeitig den Abbau der zum Himmel schreienden Ungleichheit zwischen den oberen 10 Prozent und dem Rest konstant ab (Reichtumsinitiave, Erbschaftssteuer, Einheitskasse, bedingungsloses Grundeinkommen usw.).


Und weil die Privilegien der Wenigen auch in Zukunft nicht angetastet werden sollen, wird gleich auch noch eine weitere Erhöhung des Rentenalters auf 66 mit anschliessender Anpassung an die Lebenserwartung zur Abstimmung vorgelegt. Man darf davon ausgehen, dass das Volch auch diesem Wahnsinn zustimmen wird. Womit wird dann nur einen Finger breit vom in diesen Spalten bereits dargelegten bolschewistischen Beispiel der Problemlösung getrennt sind: um das Problem der Arbeitslosen zu lösen - die es im Bolschewismus aus ideologischen Gründen gar nicht geben durfte – wurde einfach die Arbeitslosenunterstützung abgeschafft. Genau so lösen die Neoliberalen in diesem Land das „Problem“ der steigenden Rentnerzahl: man lässt die Leute einfach bis zum statistisch errechneten Durchschnittsalter schuften – 85 Jahre für die Frauen, 80 für die Männer – und schon ist das Altersproblem gelöst, denn wir haben bald keine Rentner mehr.


Wer es nicht glaubt, sollte den heute tonangebenden neoliberalen Freaks aus der FdP oder GLP genau zuhören. Dass dazu auch ein grosser Teil jener Leute gehört, die sich als Journalisten bezeichnen, versteht sich von selbst: es kann derzeit jeden Tag in der NZZ, im Tages-Anzeiger, im Blick und in der ganzen Wanner-Welt nachgelesen werden. Im Falle der Wanner-Medien scheint sich am 22. Januar so etwas wie ein Quantensprung in Sachen Zynismus ereignet zu haben. Ein Herr S.S., titelt seinen Leitartikel in den nicht näher zu nennenden Wanner-Zeitungen wie folgt: Die AHV-Milliarden brauchen wir für die Armee. Der „Journalist“ begründet seinen Rückgriff in die Trickkiste der 60er mit Russlands Angriff auf die Ukraine. Mangels Argumenten scheint Russland heutzutage für nahezu jeden Schwachsinn verfügbar zu sein, um neoliberales Gedankengut zu rechtfertigen. Natürlich wird umgehend davor gewarnt, die AHV zur Luxusvorsorge auszubauen, weil wir so unsere Wehrbereitschaft gegen den BöFei aus dem Osten verlieren würden. Geht‘s noch? Noch alle Tassen im Schrank? Oder sind die den Interessen der Reichen, Vermögenden und den Millionen Werbegeldern unterworfenen Leitmedien nun schon so korrupt, dass man sich nicht einmal mehr die Mühe um eine wenigstens scheinbar redliche Argumentation zu machen braucht? Der Mann, Kirsche auf dem Kuchen, schwafelt sogar von einer durch die 13. AHV gefährdete Demokratie daher. Wegen Putin, versteht sich. Braucht es noch einen einzigen Grund, solche Zeitungen nicht zu lesen?


Dabei könnte man eigentlich die Argumentation genau umgekehrt einsetzen. Wenn sich nämlich eine Gesellschaft in purem Egoismus und Konsum verliert und so in die kleinsten Teile atomisiert, also jeder Zusammenhalt, jede Solidarität verloren gehen, wird sich in dieser verwahrlosten Gesellschaft niemand einen Scheiss darum kümmern, wenn sich darum herum – ohnehin nicht beeinflussbare – Gefahren für die Allgemeinheit aufbauen. Die durch die so genannte Pandemie angerichtete Spaltung unserer satten Gesellschaft hätte eigentlich schon Warnung genug sein müssen, nun will man offenbar das neoliberale Zerstörungswerk mit der Prekarisierung grosser Teile der Gesellschaft zu Ende führen.


Um nur ein einziges der lächerlichen Argument gegen die 13. AHV aufzunehmen: Hätte man nur einen Funken Glaubwürdigkeit gegen die Initiative der Gewerkschaften beanspruchen wollen, dann hätte dieses mit einer satten neoliberalen Mehrheit ausgestattete Parlament einen Gegenvorschlag ausgearbeitet, um den behaupteten Giesskannen-Effekt auszugleichen. Zum Beispiel, in dem den Leuten mit satten Vermögen und privaten Pensionen (wie etwa die Ruherente für Bundesräte) ein Solidaritätsbeitrag in der Höhe der einfachen AHV abgeknöpft worden wäre. Davon keine Rede, denn man wusste vor einem Jahr nur zu genau, dass sechs Wochen vor der Abstimmung Banken und Versicherungen, die dank der Vermögensverwaltung der privaten Pensionskassen jährlich über eine Milliarde abzocken, locker eine zweistellige Millionensumme in die Propaganda-Schlacht werfen würden. Das genügt in diesem Land, um die Arroganz an der Macht zu halten. Auch wenn die Arroganz nur die Schwester der Dummheit ist.


PS 1: Und würden die neoliberalen Hetzer gegen die AHV nur eine Sekunde an ihre eigene Religion glauben, müssten sie die zusätzlichen Gelder für die Rentner begrüssen, denn dieses Geld wird - im Gegensatz zu den vom obersten Prozent abgezockten Millionen und den unverdienten Vermögen - nicht auf den karibischen oder anderen fernen Inseln deponiert und im Ausland verprasst, sondern fliesst direkt in den Binnenmarkt zurück.


PS 2: Es braucht - oder bräuchte - weder neue Steuern noch neue Abgaben, um die 13. AHV zu finanzieren. Keller-Sutters Gerede von der Steuererhöhung und der künftigen Unterfinanzierung der AHV ist leere Propaganda (wie schon seit Jahren), um nicht zu sagen Lüge (im Dienste der oben erwähnten Interessen). Ein Land das jährlich Abermilliarden zum Fenster hinaus wirft, um eine Folklore-Truppe in Uniform zu unterhalten oder um den Strassenbauwahnsinn voranzutreiben oder um unnötige Lockdowns zu bezahlen oder um eine Landwirtschaft zu subventionieren, die nicht der Spur nach ökologisch und schon gar nicht klimaverträglich ist oder in ein Gesundheitssystem zu buttern, das uns alle krank und arm macht oder um Banken zu retten, die sich über uns alle lustig machen oder den kommerziellen Flugbetrieb zu subventionieren - in einem solchen Land von einer unbezahlbaren (erst noch nur minimalen) Besserstellung für am Rande der Existenz lebende 20 Prozent der Bevölkerung zu schwafeln, ist einfach nur unanständige Heuchelei.



Olten, 27.1.2024/SF

Keller-Sutters neoliberaler Witwentrick

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) kam nach der Klage eines Schweizer Witwers zum Urteil, wonach sich die Schweiz einer Ungleichbehandlung der Geschlechter bei den Hinterlassenenrenten schuldig mache, weil Witwen Anspruch auf eine lebenslange Rente haben, Witwer hingegen nur bis zur Volljährigkeit des jüngsten Kindes. Soweit so gut, auch wenn man nüchtern feststellen muss, dass unser Berner Personal ohne den Zwang des EGMR zur Herstellung von Gerechtigkeit nicht auf die Idee einer gleichen Witwen- und Witwerrente verfallen wäre. Ginge es nach dem gesunden Menschenverstand, würde das reichste Land der Welt nunmehr aufgrund des verpflichtenden Urteils aus Strassburg die Renten von Witwern jenen der Witwen gleichstellen. Weit gefehlt.


Wenn sich in der Schweiz die geringste Möglichkeit bietet, den Abbau bestehender Sozialrechte und Versicherungen zu beschleunigen, wird dies unter Aufbietung aller neoliberalen Scheinargumente unverzüglich gemacht. Dabei steht Finanzministerin Keller-Suter zuvorderst auf der Barrikade, wenn es um den Schutz der steuerlich bevorzugten Reichen und Erben geht. Übrigens ist Keller-Suter eigentlich gar nicht für das Bundesamt für Sozialversicherungen zuständig, sondern nur für das Finanzdepartement und sollte somit eigentlich die Finger von den Sozialversicherungen lassen; allerdings ist anzunehmen, dass der für das BSV beim Ausarbeiten der Vorlage noch im Amt weilende Cüpli-Sozi Berset den neuerlichen Angriff ebenso abgenickt hat, wie schon zuvor die Verschlechterungen bei der AHV, wie etwa Rentenalter 65 für Frauen. Womit klar ist, wer eigentlich das Sagen hat.



Was die massive Verschlechterung der neu nach unten orientierten Renten für verwitwete Ehegatten, vor allem aber für Ehegattinnen bedeutet, muss nicht im Detail erörtert werden. Der Kurs ist klar: Frauen und Männer, die ihren Partner bzw. ihren Partner verloren haben, sollen gefälligst schauen, wie sie nach Ablauf von zwei Jahren nach der Verwitwung davon kommen, es sei denn das jüngste Kind ist noch nicht 25 Jahre alt ist. Es gibt zwar Ergänzungsleistungen, wenn der Tod einen Armutsfaktor darstellen würde, aber jeder in diesem Land, der nur schon von ferne mit der EL zu tun gehabt hat oder hat, weiss was das bedeutet: endloser und demütigender Papierkrieg bis zur Depression oder den Gang aufs Sozialamt. Wer im Falle einer Witwenschaft das 55. Altersjahr erreicht und keine unterhaltsberechtigten Kinder mehr hat, bekommt gar keine Rente mehr. Man muss sich dann halt auf dem Arbeitsmarkt umschauen, gell, oder gleich vor dem Sozialamt auf die Knie fallen. Wer sich einmal die Mühe gemacht, sich auf dem Arbeitsmarkt für über 50Jährige umzuschauen, wird feststellen: no chance! Angeblich will Keller-Suter mit dem Witwentrick 40 Prozent der Witwenrenten einsparen, rund 700 Millionen, wenn die Sache einmal voll in Kraft sein würde. Man darf davon ausgehen, dass die angeblich zugunsten der AHV „eingesparten“ Gelder dann einfach vom Konto der Sozialhilfe abgebucht werden müssen – in Kantonen und Gemeinden. Die damit verbundene politische Dummheit (siehe später im Text) wird nur noch durch die Perfidie überboten, mit der unterschwellig zu verstehen gegeben wird, es handle sich bei den Witwen-Rentenempfängern sowieso nur um egoistische Profiteure.

Nur Sozial-Darwinismus oder bereits Stamokap?


Was Keller-Suter vorschlägt, ist Sozial-Darwinismus in seiner ganzen Kälte. Man kann davon ausgehen, dass nach Ablauf der Übergangsfrist, ein neuer Anlauf auf dieses Sozialwerk kommen wird mit dem Ziel, die Verwitweten-Rente ganz abzuschaffen. Ganz so, wie die Keller-Suters Partei, die Freisinnigen und die Grün-Liberalen als deren Fünfte Kolonne, den Totalangriff auf die AHV planen, in dem im nächsten Schritt das Rentenalter auf 70 erhöht wird und schliesslich an die durchschnittliche Lebenserwartung (85) angepasst werden soll. Sozusagen zum Warmlaufen, präsentiert man jetzt die Vorstufe zur Abschaffung der Verwitweten-Renten und nennt es „Anpassung an die gesellschaftliche Entwicklung“. Wir gehen auf eine Zeit zu, in der es weder Witwen und Witwer noch Rentnerinnen und Rentner geben wird. Stalins Zeitalter rückt näher.

Als nämlich die Bolschewisten unter Stalin beschlossen, dass es in ihrem sozialistischen, klassenlosen Paradies keine Arbeitslosigkeit mehr geben dürfe, schafften sie kurzerhand die Arbeitslosengelder ab. So wurde ein soziales Problem über Nacht gelöst. Die Freisinnigen der Schweiz, das ist: wenn die neoliberale Ideologie dem Stamokap die Hand reicht. Übrigens: Bundesratsmitglieder sollen vom Rentenklau im Verwitwetenfall nicht betroffen sein.

Umgekehrt ist auch nicht gefahren: Beispiel Asyl


Nun könnte man meinen, dass das Prinzip der Anpassung und Gleichbehandlung auch auf andere Felder angewandt werden sollte. Zum Beispiel bei den Flüchtlingen. Seit sich vier Millionen Ukrainer in den Westen auf den Weg gemacht haben, spricht man hierzulande, wie auch im übrigen Vorhof der Nato von den Menschen mit „unseren Werten“, die vor den russischen Barbaren und ihren Bomben in Schutz zu nehmen seien. Recht so. Nur logisch, hat sich der Bundesrat für eine umgehend menschenfreundliche Handhabung des Asylrechts entschieden und über Nacht Tür und Tor für alle aus der Ukraine Flüchtenden geöffnet. Anfangs durften sie sogar monatelang gratis Bus, Zug und Schiff fahren. Und sie durften sofort arbeiten, wo immer sie es wünschten. Inzwischen sind vermutlich rund siebzigtausend Ukrainer in der Schweiz; sie werden in ihrer Mehrheit auch hier bleiben.


Und die anderen? Die rund dreissigtausend Asylsuchenden aus anderen Ländern?


Keine Rede von einer Gleichbehandlung mit den Ukrainern, natürlich nicht. Denn sie sind ja offensichtlich nicht mit „unseren Werten“ im Rucksack hier eingetroffen. Die Afghanen, die Syrer oder Kurden, nicht wahr? Von den Afrikanern ganz zu schweigen. Sie alle müssen ein extrem mühsames Asylverfahren durchlaufen - das jährlich Milliarden verschlingt -, um in der überwiegenden Mehrheit zwar einen ablehnenden Entscheid zu erhalten, aber trotzdem in der Schweiz festgesetzt zu werden. Weil sie nämlich zwar nicht persönlich verfolgt sein sollen, aber in ihren Herkunftsländern Krieg, Bürgerkrieg herrscht und eine Rückschaffung allein schon aus humanitären Gründen nicht möglich ist. Diese Menschen mit „vorläufiger Aufnahme“, aber ohne Flüchtlingsstatus und ohne kaum eine Chance, einen Job zu finden, bleiben in ihrer überwiegenden Mehrheit in der Schweiz, für immer. So, wie die meisten Ukrainer. Gleichbehandlung? Von wegen.


Von den Ukrainern arbeiten übrigens nur etwa zwanzig Prozent, nur unwesentlich mehr als die Leute ohne unsere Werte, (also die Wertelosen oder soll man sie ehrlicherweise als die Unwerten bezeichnen, so wie man es ja eigentlich meint?), für die sich Integrationsmassnahmen angeblich nicht lohnen. Dabei hat sich herausgestellt, dass die angeblich so gut ausgebildeten, sprachbegabten und arbeitswilligen Premium-Flüchtlinge aus der Ukraine nur unwesentlich besser in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt integriert werden. Die deklarierten Werte sind offenbar doch nicht so ganz die gleichen. Kein Wunder, Ukrainer kommen aus einem Land, das punkto Korruption, Gewalttätigkeit und gesellschaftlicher Rückständigkeit kaum besser gestellt ist als Leute aus Vorderasien oder Schwarzafrika. Immer noch verpasst die Schweiz jede Gelegenheit, tausende von Menschen zu deren und unser aller Wohle bei uns wirklich aufzunehmen. Stattdessen werden die Ukrainer aus den Geldern für die Entwicklungsgeldern bezahlt; Geld, das dann dort fehlt, wo man eigentlich Ursachen für die Flucht – zum Beispiel übers Mittelmeer – bekämpfen könnte.


Gleichbehandlung und Anpassung an die gesellschaftliche Entwicklung ist für den neoliberal indoktrinierten Bundesrat (und für die überwiegende Mehrheit des ihn wählenden Parlamentes) nur dann ein Argument, wenn dabei gespart werden kann. Was auf einen permanenten Krieg gegen die Sozialwerke hinausläuft und letztlich eine stete Umverteilung von unten nach oben. Das Gejammer über „Finanzierungslücken“ oder demographische Bedrohungen ist natürlich reine Augenwischerei. Diese Ablenkungsmanöver sollen verhindern, dass in diesem Land endlich über weniger Ungleichheit verhandelt wird. Etwa über eine gerechte Besteuerung der hohen und höchsten Einkommen, der Vermögen, der Erbschaften oder des Börsenhandels. Der neoliberalen Ideologie folgend sind diese Bereiche unantastbar, denn – so der Glaube ans Christkind – die Akkumulation privaten Reichtums werde dazu führen, dass diese Vermögen, Renditen und Profite durch mehr Konsum und Investitionen an die Allgemeinheit zurückflössen. Wir wissen alle, dass das eine glatte Lüge ist, die auch nicht wahrer wird, wenn sie von den Macrons, den Trumps und Keller-Suters dieser Welt tagtäglich vorgebetet werden. Bei gleichzeitiger Bereitschaft Abermilliarden für Banken, diese kriminellen Vereinigungen in weissen Kragen, oder für weitgehend überflüssige, jedoch der Pharmaindustrie nützenden so genannten Pandemie-Massnahmen zum Fenster hinaus zu werfen.


Und dabei haben wir noch gar nicht vom ganz normalen Wahnsinn bei der Verschwendung der bisher einkassierten Steuergelder gesprochen. Zum Beispiel von den jährlich rund vier Milliarden Landwirtschaftssubventionen, den fünf Milliarden Militärausgaben, dem hirnrissigen Strassenbau, dem Bahnwahn, dem neu aufgezogenen Subventionstollhaus für Solarpanele, die Subventionen für den Luftverkehr usw.



Doch es ist nicht davon auszugehen, dass der Stimmbürger diesen Wahnsinn an der Urne stoppen oder bei den nächsten Wahlen für andere Mehrheiten sorgen wird. Ängste vor Verlust und Veränderung, eingeübt durch jahrzehntelange Verdummung einer auf den Neoliberalismus eingeschworen Medienmaschine, reichen, um mit der Drohung vor dem „Weniger“ das tumbe Volch auf Kurs zu halten.

Dauerhaft neoliberal geschädigte Gesellschaft


Die neoliberal beschädigte Gesellschaft, deren einziges Sinnen und Trachten die Anhäufung von Profiten und Reichtum für wenige ist, produziert mehr und mehr sozialen Abfall, Menschen, die als überschüssig gelten und deshalb für die Machthabenden von keinem Interesse sind, es sei denn, um zu beweisen, dass das Gesetz des Stärkeren zu gelten habe. Wer nicht mitmacht oder nicht mitkommt, ist selber schuld. Aus der Geschichte hat man bis in unsere Tage nichts lernen wollen. Sehenden Auges treibt man auf eine neue Masse zu, die sich aus Verlierern, Abgehängten oder Aussortierten zusammensetzt und die gegenüber dem Staat und seinen Institutionen genau so viel Solidarität entwickeln wie umgekehrt: keine.


„Der Ausdruck ‚Masse‘ ist überall da zutreffend, (...) wo wir es mit Gruppen zu tun haben, die sich, entweder weil sie zu zahlreich oder weil sie zu gleichgültig für öffentliche Angelegenheiten sind, in keiner Organisation strukturieren lassen, die auf gemeinsamen Interessen an einer gemeinsam erfahrenen und verwalteten Welt beruht, also in keinen Parteien, keinen Interessenverbänden, keinen lokalen Selbstverwaltungen, keinen Gewerkschaften, keinen Berufsvereinen. Potentiell existieren sie in jedem Lande und zu jeder Zeit; sie bilden sogar zumeist die Mehrheit der Bevölkerung auch sehr zivilisierter Länder, nur dass sie eben in normalen Zeiten politisch neutral bleiben und sich damit begnügen, ihre Stimmen nicht abzugeben und den Parteien nicht beizutreten.


Es war charakteristisch für den Aufstieg der totalitären Bewegungen in Europa, der faschistischen wie der kommunistischen, dass sie ihre Mitglieder aus der Masse jener scheinbar politisch ganz uninteressierten Gruppen rekrutierten, welche von allen anderen Parteien als zu dumm oder zu apathisch aufgegeben wurden.“ (Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Piper, S. 726 ff.)


USA, Italien, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Holland, die Schweiz wohl nach dem nächsten Finanzgau mit dem Verlust von Renten und Immobilien … niemand soll in mutmasslich naher Zukunft behaupten dürfen, man habe es nicht wissen können.


Olten, 9. Januar 2024/SF

Die Welt ist nicht genug

(James Bond 1999)


Was haben Bezos, Branson, Ermotti, Gates, Musk und Zuckerberg gemeinsam? Das: „Expansion ist alles. Ich würde Planeten annektieren, wenn ich könnte.“ (Cecil Rhodes)*


Es mag auf den ersten Blick seltsam erscheinen, die Über-Bosse der Neuzeit mit einem der übelsten Kolonisten seiner Zeit zu vergleichen. Aber es geht an dieser Stelle nicht um die Figuren, deren Lächerlichkeit über anderthalb Jahrhunderte hinweg eigentlich kaum zu unterscheiden ist. Nicht deren Anmassungen, Arroganz, Zynismus oder letztlich deren Scheitern (was beim Personal der Neuzeit noch bevorsteht) stehen im Vordergrund der Betrachtungen.



Nein, es geht um die Epoche, die Zeitspanne, während der diese Figuren ihren Platz in der Geschichte eingenommen haben beziehungsweise wieder einnehmen. Und es geht um die Mechanismen von Macht, Machtpolitik, Akkumulation von Kapital und Produktivität, Vermischung von so genannten „nationalen öffentlichen“ mit „kommerziellen bzw. privatwirtschaftlichen“ Interessen. Und schliesslich geht es um die Unfähigkeit der Politik, aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen, um Katastrophen zu verhindern.

Kolonialismus im 19. Jahrhundert


Im ausgehenden 19. Jahrhundert suchte das in England, Frankreich und Deutschland angehäufte Kapital nach neuen Investitionen, nach neuen Profitmöglichkeiten, die das Bisherige nicht nur in den Schatten stellen, sondern - vor allem – das System der stetig sich reproduzierenden Gewinne ins Unendliche fortführen würden. Die Industrialisierung der grössten Länder Europas war zwar ein atemberaubender Erfolg vor allem für Unternehmer und Investoren, aber es gab auch eine Schattenseite: überschüssiges Kapital, das in den gesättigten Märkten Europas nicht mehr mit ansprechenden Profiten investiert werden konnte.



Mitte der 70er Jahre übernahmen die Engländer den Sueskanal. Das nach der Eröffnung ein paar zuvor sich nur schleppend entwickelnde Geschäft des von Ferdinand Lesseps vorangetriebenen Monumentalwerkes sollte alsbald für wesentlichen Auftrieb bei der dümpelnden Finanzindustrie sorgen. Asien, Ostafrika und das südliche Afrika, Australien und Neuseeland rückten für Rohstoffe und Exporte sehr viel näher, wurden zu verheissungsvollen Regionen, in die immer mehr neues Kapital und mit ihm abertausende arbeitsloser Europäer exportiert wurden. Die Gewinnaussichten waren phantastisch, ebenso wie eine aufstrebende Schwindelindustrie, die kolossale Verluste und Bankrotte erzeugte. Der wohl spektakulärste Finanzskandal war – nur wenige Jahre nach der Inbetriebnahme des Sueskanals – jener um den Panamakanal, in dem wiederum von Lesseps rund eine Milliarde Francs verlocht und tausende von Kleinanlegern betrogen wurden, viele begingen Selbstmord. Die Kolonien Frankreichs, Englands und Deutschlands in Afrika und Asien zogen gleichermassen Geld und Hasardeure an. Der Casino-Kapitalismus erlebte sein Geburtsstunde.

Private Verluste werden verstaatlicht


Als die bis anhin privaten Geldgeber die Risiken nicht mehr – alleine – tragen wollten, kamen Staatsgarantien zum Zug. Und damit wurde das Kolonialgeschäft zur heimatlichen Staatsaufgabe, die zunehmend die europäischen Kolonial- und gleichzeitig Nationalstaaten in Bedrängnis brachten. Während Frankreich die Kolonien als Teil der Nation einzurichten versuchte, setzten die Engländer und die Deutschen auf eher dezentrale Strukturen und bauten ziemlich autonom funktionierende Kolonialverwaltungen auf. Beide Modelle sollten scheitern. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges zeigte sich, dass die Kolonien – allesamt um ein vielfaches grösser als ihre Mutterländer – nicht gehalten werden konnten, zumal sich die unverhohlen als Sklaven behandelten Kolonisierten in Aufständen zur Wehr zu setzen begannen oder sich die „Weltreiche“ in Übersee bei der Durchsetzung der privaten Interessen etwa von Ölfirmen oder anderer Rohstoffhändler in die Quere kamen. Die Kolonien drohten in ihren Mutterländern einen ungeheuren Rückstoss zu erzeugen. Deshalb lud der deutsche Reichskanzler Otto Bismarck im November 1884 zur „Kongo“-Konferenz, um die Ausbeutung Afrikas – ohne Beteiligung der Afrikaner – unter den europäischen Kolonialreichen, dem Osmanischen Reich und den USA aufzuteilen. Kriege um Rohstoffe sollten so in den Kolonien vermieden werden. Trotzdem – oder gerade deshalb – kam es 20 Jahre später zum Weltkrieg zwischen den Kolonialreichen.

Neoliberaler Kolonialismus und digitale Dominanz


Was hat das alles mit uns zu tun?


Der fulminante Aufstieg der Digitalindustrie, begleitet – und begünstigt – durch den Casino-Kapitalismus (sprich: Investment-Ganging) hat nicht dazu geführt, dass es der Mehrheit der Menschen weder in den Industrieländern noch im überwiegenden Rest der Welt besser gegangen wäre. Das stand nie auf dem Programm, war stets nur ein Vorwand. Im Gegenteil: die Disparitäten zwischen den Reichsten und den Armen haben ein Ausmass erreicht, das eigentlich nur noch mit der völligen Verelendung der Massen versus der obszönen Bereicherung der Superreichen beschrieben werden kann. Der Neoliberalismus der Chicago-Boys um Friedman und Hayek hat dazu das ideologische Fundament geliefert, ohne auch nur einen Deut an den Abhängigkeitsverhältnissen und der Ausbeutung der grossen Masse in Europa (und in den Entwicklungsländern erst recht) zu ändern. Soweit ist die europäische Gesellschaft schon im Jahr 1914 gewesen – so, wie 110 Jahre später. Das hat die beschriebene Situation mit uns, heute, zu tun.


Die so genannten Investoren finden in Europa und in den USA gesättigte Märkte und eine für den schnellen Reibach ungünstige Gewinnmarge vor. Schlechte Voraussetzungen für eine auf stetiges Wachstum und steigende Renditen ausgerichtete Wirtschaftsclique, die faktisch die Monopole der digitalen Industrie wie jene des spekulativen Finanzsektors (man bezeichnet sich selber bescheiden als Elite) unter sich aufteilt. Das Luftgeld – erzeugt durch eine kriminelle Schuldenindustrie, die kolossale Gewinne, will heissen riesige und vor allem schnelle Profite für die Paten der Boni verspricht – muss global platziert werden, um noch mehr Luftprofite zu erzeugen. Die Globalisierung hat die Profitaussichten für die Wenigen auf planetares Niveau gehoben – und die überwiegende Mehrheit, die grossen Massen in Armut belassen oder gar erst dorthin befördert. Der grosse Unterschied zur Epoche des europäisch angetriebenen Kolonialismus ist heute die Dominanz der amerikanischen Interessen. (Und zunehmend jene der chinesischen Staatsmonopolkapitalisten wie etwa Tik-Tok oder Alibaba.)



Die digitalen Technologien, wie sie von Google, Apple, Microsoft, Amazon, Netflix oder Paypal als weltumspannendes Netz aufgegleist sind, lassen kaum mehr einen Zweifel über den Machtanspruch der Milliardäre zu. Ihre Interessen würden im Bedrohungsfall, etwa durch Markteinschränkungen zum Schutz bestimmter, verletzlicher Gruppen oder eigener Industrien, im Sinne der Monroe-Doktrin als Bedrohung der USA eingestuft und entsprechend verteidigt werden. Die Nervosität, mit der sich die amerikanische Diplomatie in Szene setzte, als Tik-Tok und Alibaba ihrerseits zur Welteroberung ansetzten, spricht Bände. Und im Hintergrund steht als Rückversicherung der von der EU gefütterte Kettenhund der USA, um im Bedarfsfall durch einen herbeigelogenen UN-Beschluss losgelassen zu werden: die NATO. Private Profitinteressen sind zu Staatsinteressen mutiert. Was im übrigen kaum jemanden erstaunen dürfte, der beispielsweise über die enge Zusammenarbeit zwischen Google und der CIA informiert ist (man lese Shoshana Zuboff). Dass sich ausgerechnet die USA lauthals über die Spionagevorwürfe gegen die chinesische Tik-Tok-Firma empört, wirkt nachgerade ebenso heuchlerisch wie lächerlich.

Karl Marx hat es vorausgesehen


Ganz wie von Karl Marx vorausgehen, haben sich die Schlüsselindustrien als staatlich geschützte Monopole durchgesetzt und bestimmen die Nutzerregeln – und die ständig steigenden Preise. Die Abhängigkeiten ihrer Angestellten und Arbeiter sind indessen in die Verhältnisse zu Lebzeiten von Karl Marx zurückgefallen. Doch es wird immer enger, die dem Wachstumsdogma geschuldeten Profite für noch mehr Profite anzulegen. Die Märkt der globalen Player sind weitgehend ausgeschöpft. Nur noch der Trick der Finanzindustrie, mit dem digitalen Casino scheinbar das Perpetuum mobile für Spekulanten anzubieten, funktioniert. Bis es zum endgültigen Zusammenbruch des dafür aufgeschichteten Schuldenberges komm

Gedanken wozu?

Diese Seite befasst sich mit eher aktuellen Fragen, die nicht unmittelbar mit den längerfristig ausgerichteten Buchprojekten zusammen hängen. Romane sind Schreiben als Marathon, Gedanken und essayistische Arbeiten eher Sprints.

Der Autor erhebt dabei nicht den Anspruch fachlicher Kompetenz. Es sind eben Gedanken zu Themen, die möglicherweise auch andere beschäftigen. 

Reaktionen sind immer willkommen.

Herzlichst

Ihr Stefan Frey


PS: Das Symboltier für diese Seite ist nicht zufällig ein Chamäleon. In Madagaskar, wo es über 30 Arten davon gibt, sagt man, das Chamäleon blicke mit einem Auge in die Vergangenheit und mit dem anderen in die Zukunft.

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