Lesen heisst, sich verführen lassen. Lesen erzeugt Bilder. Bilder im Kopf und aus Bildern werden Geschichten. Die wahren Abenteuer sind Kopf - so die Aussage von Andre Heller. Er muss es wissen. Aber wissen es die Unzähligen, die sich im gebeugten Gang vorwärts schleppen, um Klick für Klick sich von der Welt zu entfernen und dabei dem Trugschluss erliegen, die digitalen Ausdünstungen unserer Zeit seien eben gerade die reale Welt?
Wie ein Junge aus Pruntrut/Porrentruy - im Schweizer Jura - zum reichsten Mann von Mexiko wurde. Und sich im Dickicht von korrupter Bigotterie, zynischem Grössenwahn und geostrategischer Machtpolitik verstrickte, den Niedergang des Second Empire auslöste und am Ende als Opfer der ersten «Diktatur des Proletariats» dastand.
Die Geschichte des Müller-Sohnes Jean-Baptiste Jecker führt zu den Anfängen des globalen Finanzkapitalismus, der unabhängig vom realen Wert der Dinge Geld aus Geld schöpft. Länder und ihre Ressourcen werden zum Pfand für die Geldverleiher, hinter denen die Mächtigen stehen. Wenigstens solange Letztere daraus Nutzen ziehen.
Die mexikanischen Anleihen des Bankiers Jecker waren auf Nichts begründet. Früher oder später musste die Blase platzen. Der deutsch-französische Krieg, die Pariser Kommune und ein für immer verändertes Europa waren die Folgen. «Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.» sagt Don Fabrizios Neffe Tancredi in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Gattopardo, der zur selben Zeit in Sizilien spielt.
In der Tat scheint sich seit dem 19. Jahrhundert so gut wie alles verändert zu haben. Wirklich? Der Finanzkapitalismus blieb, was er war, nur dessen Methoden haben sich verfeinert. Aus der mexikanischen wurde eine griechische Tragödie. Und mehr als je zuvor wird Geld aus Geld geschöpft.
Jecker – Bankier des Todes ist ein Roman über die Gier, die Rache und – 150 Jahre nach der Niederschlagung der Pariser Kommune – über unerfüllte Hoffnungen auf bessere Zeiten.
Schreiben ist der tollkühne Versuch, seinen Mitmenschen Abenteuer im Kopf zu bescheren. Aber Schreiber brauchen Leser, keine Klicker mit einem Horizont von dreihundert Zeichen. Schreiben ist eine Behauptung. Wir behaupten, es gäbe Leser für unser Geschriebenes. Wir suchen Abenteurer.
Fernando Pessoa behauptet in seinem Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Soares: "Schreiben heisst vergessen." Die Literatur sei die angenehmste Art, das Leben zu ignorieren. "Die Musik wiegt ein, die visuellen Künste beleben, die lebendigen Küste (wie Tanz und Theater) unterhalten. Die Literatur jedoch entfernt sich vom Leben, weil sie das Leben zum Schlaf macht; alle übrigen Künste hingegen bleiben im Leben - die einen, weil sie sich sichtbarer und mithin vitaler Formen bedienen, die anderen, weil sie vom menschlichen Leben leben. Nicht aber die Literatur. Sie täuscht das Leben vor. Ein Roman ist die Gechichte dessen, was nie war, und ein Drama ein Roman ohne Geschichte. Ein Gedicht ist der Ausdruck von Ideen oder Gefühlen in einer Sprache, die niemand gebraucht, denn niemand spricht in Versen."
Ein Teil meiner geschätzten Leserschaft verhehlt gelegentlich nicht seine Abneigung gegen meine Neigung zu Schachtelsätzen. Durchaus solidarisch mit dem Autor wird auf die vorteilhaften Eigenschaften von Lektoraten hingewiesen. Es wird nicht verfehlt, auf einen gesteigerten Lesegenuss zu verweisen. Wenn die Sätze kürzer wären. Es ist leider hoffnungslos.
Meine Schreibe ist wie mein Denken. Oft weitschweifig, assoziativ, mäandrierend durch die Tiefebenen der menschlichen Existenz, manchmal vom Hundertsten ins Tausendste. Geschichte lässt sich nicht in Schnipseln erzählen, weder die Geschichte als Historie noch jene als Zukunft. So sind meine Geschichten, von kurzen Sprints und längeren Versuchen zu aktuelleren Ereignissen oder speziellen Anlässen abgesehen, in Schachteln und Schächtelchen verpackt. Manches davon ist als Zitat zu lesen, was detektivische Instinkte auslösen mag, anderes ist Komplementäres, das nicht alleine stehen soll und – aus meiner Sicht – nur eingebettet seine Berechtigung hat. Romane sind Universen, eingezwängt in eine mehr oder weniger knapp bemessene Einheit von Zeit und Raum. Ein Universum ist aber weitläufig, verlangt zu dessen Entdeckung Ausdauer und Einhalt.
Es mag an unserer auf Tempo getrimmten Zeit liegen, dass die Mühe eines mehrschichtigen Gedankens, aufgefangen in einem vielleicht langen Satz, nicht des Lesens wert ist. In einer Zeit, in der Staatsmänner, und jene, die sich dafür halten, ihre Botschaften auf hundertvierzig Zeichen reduzieren, fällt einer leicht aus der Zeit, der mit Rückblenden, Zwischenrufen, Phantastereien und Spielereien, Sätze drechselt.
Manchmal frage ich mich, was heutzutage aus den Romanen von Proust, Dostojewskij, Joyce oder Faulkner und Grass geworden wäre (ohne so vermessen zu sein, mich auf deren Stufe stellen zu wollen). Oder aus Pessoas Buch der Unruhe. Oder wie wäre Hundert Jahre Einsamkeit herausgekommen, wenn Gabriel Garcia Marquez das Buch für 20-Minuten geschrieben hätte, ganz zu schweigen von Siegfried Lenz Heimatmuseum und Ulrich Bechers Murmeljagd? Was nicht heissen soll, dass Leute wie Kafka, die Manns, Hemingway, Dos Passos, Böll, Frisch, Dürrenmatt, Ph. Roth oder Boyle und McEwan nicht einzigartige Literatur geschrieben hätten und noch schreiben. Nur eben jeder in seinem Stil, der zudem noch einen relevanten Inhalt transportiert. Nur das zählt. Die Relevanz der Geschichte für die Leserin und für den Leser.
Und hier zur Heilung von Schachteln und Sätzen der unvergleichliche Hanns Dieter Hüsch: https://www.youtube.com/watch?v=S_0VQIPMTsY.
Hüsch war übrigens jahrelang vielgeliebter Gast im Kellertheater der Stadt, die sich durch nichts ausgezeichnet hat.
Es ist unsere Aufgabe, daran zu erinnern, dass der Mensch nicht nur existiert, um verwaltet zu werden – und dass die Zerstörungen in unserer Welt nicht nur äusserer Art sind und nicht so geringfügiger Natur, dass man sich anmassen kann, sie in wenigen zu Jahren heilen.
Heinrich Böll, 1952 (Bekenntnis zur Trümmerliteratur)
Stefan Frey, Hauptgasse 9, 4600